Berichte von 02/2020

Typisch bolivianisch?

11Feb2020

Bevor ich nach Bolivien gekommen bin, habe ich viele Klischees und Stereotypen über Lateinamerika und Bolivien gehört. Diese führen oft zu Vorurteilen und treffen, wenn überhaupt, nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung zu.

Natürlich liegt Bolivien am anderen Ende der Welt und natürlich unterscheiden sich einige Verhaltensmuster und kulturelle Werte von denen in Deutschland. Trotzdessen sind wir alle nur Menschen und wir sind gar nicht so unterschiedlich, wie viele oft denken. In vielen Punkten ist das Leben in Bolivien dem Leben in Deutschland sehr ähnlich. Nur sind es meistens die Unterschiede, die uns mehr auffallen.

Ich möchte hier nun mit euch teilen, was für mich "typisch bolivianisch" ist und für mich das Leben in Bolivien ausmacht. Dies ist allerdings nur mein subjektiver Eindruck von dem, was ich in diesem Jahr erlebt habe, und trifft keinesfalls auf alle Menschen in Bolivien zu.
Außerdem kann ich nicht beurteilen, ob diese Eindrücke nur auf Bolivien zutreffen oder auch auf andere Länder in Lateinamerika. Obwohl sich die lateinamerikanischen Staaten in vielen Punkten sehr ähnlich sind, gibt es trotzdem große Unterschiede.


Family first:

In Bolivien ist für die meisten Menschen die Familie die wichtigste Struktur der Gesellschaft, die Einheit, die alles zusammenhält. In der Familie wird alles geteilt. Wenn mit der Familie etwas unternommen wird, dann sind meist alle dabei. Zum Mittagessen kommt meistens die ganze Familie zusammen und am Wochenende wird häufig etwas mit der Großfamilie unternommen. Nur, wenn es für die Familie in Ordnung ist und nichts anderes geplant ist, dann wird sich mal mit Freunden getroffen.
Außerdem lebt ein Großteil der jungen Erwachsenen weiterhin bei seinen Eltern, bis sie mit ihrem/r Partner*in zusammenziehen, häufig bis Ende 20. Und solange man noch bei seinen Eltern wohnt, gelten auch deren Regeln, z.B. bezüglich Ausgehzeiten.

No pasa nada:

Vielleicht ist das nichts, was Bolivianer für sich als typisch bolivianisch bezeichnen würden, aber definitiv etwas, was ich hier gelernt habe. Dinge laufen selten so, wie geplant (sofern sie überhaupt geplant werden). Meist kommt irgendetwas dazwischen. Mal sind es unvermeidbare Zwischenfälle und äußere Gewalt, mal die fehlende Planung oder Kommunikation. Aber am Ende wird trotzdem alles gut. Man findet immer einen Weg, mit den Umständen umzugehen und letztendlich passiert ja nichts. Dann kommt man eben mal später ans Ziel, wenn beispielsweise der Bus nicht fährt, da durch starken Regen die Straße eingestürzt ist.

Vielleicht ist da auch die Grund-Spontaneität, die die meisten Bolivianer an den Tag legen, recht hilfreich, um mit diesen Situationen umzugehen. Generell werden häufig spontan Dinge unternommen oder kurzfristig entschieden. Ich habe zwar eine Weile gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, aber man lebt meiner Meinung nach deutlich entspannter, wenn nicht die ganze Woche von morgens bis abends durchgeplant ist.
Ich wusste Freitagsabends meistens nicht, was ich am Wochenende mache. Aber da das auch kaum jemand anderes wusste, hatte ein Großteil meiner Freunde spontan Zeit. Und ein langfristiger Plan wäre durch ein kurzfristiges Ereignis wahrscheinlich eh nicht aufgegangen, deshalb klappt hier alles spontan doch einfach irgendwie besser.

Bei der Arbeit kann diese gewisse fehlende Planung natürlich manchmal etwas kontraproduktiv sein und die Dinge erschweren. Da wünscht man sich vielleicht schon manchmal etwas mehr Struktur von einigen Kollegen. Aber es ist erstaunlich, wie gut und kreativ viele Ideen auch komplett unstrukturiert erfolgreich umgesetzt werden können.

Essen:

Ich hatte ja in einem vorherigen Blogeintrag schon über die Kulinarik Boliviens berichtet. Diese ist für mich ein ganz wichtiger Bestandteil der bolivianischen Kultur. Aber gar nicht unbedingt nur, was gegessen wird, sondern wie und wo.
Die vielen kleinen Familien-"Restaurants", in denen man in einem kleinen Raum halb auf der Straße auf Plastikstühlen sitzt und ein typisches bolivianisches Almuerzo mit Sopa und Segundo serviert bekommt. Das viele Essen auf der Straße; Empanadas, Salteñas, Tucumanas, Brötchen... Die Fruchtstände, an denen man im Vorbeigehen einen frisch gepressten Saft kaufen kann und meistens auch noch llapa (Nachschlag) bekommt.
Und nicht nur, dass das Essen auf der Straße gekauft wird, es wird auch an Ort und Stelle verzehrt, wodurch die Straße zu einem Aufenthaltsort wird und nicht nur dazu dient, von A nach B zu kommen.

Cholitas und Aguayos:

Cholitas sind die indigenen Frauen, die traditionell gekleidet sind und sowohl in der Stadt als auch auf dem Land anzutreffen sind. Sie tragen mehrere Unterröcke und einen Überrock, die Pollera, wobei die Anzahl der Unterröcke dem Gesellschaftsstand entspricht; je mehr Röcke, desto höher der Stand. Außerdem variieren Farben und Länge der Röcke nach den verschiedenen Regionen Boliviens. Durch die vielen, schweren Röcke wirken die Cholitas häufig sehr füllig.
Zu der typischen Kleidung gehört außerdem ein Schultertuch und der traditionelle Hut. Die melonenförmigen Hüte sind meistens sehr teuer und deshalb der ganze Stolz einer Cholita. Darüberhinaus haben die Cholitas meist einen Zopf aus Wolle in ihre Haare geflochten, um die Haare noch länger wirken zu lassen.
Besonders reiche Cholitas tragen häufig teuren Schmuck oder haben vergoldete Schneidezähne.

Um Dinge zu transportieren, wie beispielsweise Einkäufe oder sogar ihre Babys, nutzen Cholitas keine Rucksäcke oder Taschen, sondern Aguayos. Dies sind große Leinenstoffe in traditionellen, bunten Farben. Mit einer bestimmten Wickeltechnik wird das zu Transportierende darin eingewickelt und sich anschließend über den Rücken und die Schultern geknotet. Auf diese Art tragen die Cholitas manchmal ein enormes Gewicht auf dem Rücken, wovor ich echt einen großen Respekt habe.

Aguayos in ihren verschiedenen Farben und Mustern sind darüberhinaus häufig als Tischdecken, Teppiche oder Wandbehänge zu finden (oder für Touristen als Taschen, Hefte, Mäppchen, Pullis etc.) und verbildlichen für mich Bolivien. 

Musik und Tanz:

In Bolivien gibt es verschiedene traditionelle Musikstile und die dazugehörigen Tänze.
Ein typisches Instrument in vielen bolivianischen Liedern ist die Panflöte oder die Flöte, die besonders in der Andenregion weit verbreitet sind.
Bilder zu den verschiedenen Tänzen habe ich in meinem Blogeintrag zum Carnaval schon hochgeladen. Wer einen kleinen Einblick in die traditionelle Musik bekommen möchte, der kann sich einmal Musik von "Los Kjarkas" anhören, der vermutlich bekanntesten bolivianischen Musikgruppe.

Für mich machen diese Musik und die Tänze einen großen Teil der bolivianischen Kultur aus, da sie nicht nur beim Carnaval zu bewundern sind, sondern auch im Alltag allgegenwärtig sind, wie beispielsweise die Musik im Bus, kleinere Straßenumzüge oder öffentliche Ensayos (Proben) mitten in der Stadt außerhalb der Feierlichkeiten.

Freundlichkeit:

Ein zentraler Aspekt, den ich in Bolivien gelernt habe, ist Freundlichkeit. Das klingt jetzt erst mal recht banal, aber mir ist hier erst aufgefallen, wie kalt viele Menschen in Deutschland in der Öffentlichkeit sind, mich eingeschlossen.
In Bolivien hingegen grüßt man sich, wenn man in den Bus einsteigt, in einen Laden hereinkommt, in den Fahrstuhl einsteigt oder einfach auf der Straße, auch, wenn der Gegenüber dir völlig fremd ist. Allgemein empfinde ich, dass die Menschen in Bolivien generell achtsamer und offener gegenüber ihrem Umfeld und der Öffentlichkeit sind.
Wenn man beispielsweise gemeinsam auf den Bus wartet oder in der Teleferico zusammen fährt, entsteht schnell ein Gespräch und eine gewisse Verbindung. Oder wenn man im Reisebus unterwegs ist und der Busfahrer nach der Pinkelpause weiterfährt, obwohl noch jemand fehlt, und daraufhin der ganze Bus anfängt laut zu rufen und sich zu beschweren. Diese Verbundenheit und Freundlichkeit gegenüber Fremden gefällt mir sehr, da ich in Deutschland meist das Gefühl habe, dass jeder in seiner eigenen Welt unterwegs ist und nicht wirklich auf seine Mitmenschen achtet.

Darüberhinaus ist diese Freundlichkeit auch gegenüber Freunden und Familie stark zu spüren. Ich habe es so wahrgenommen, dass häufiger durch kleine Gesten gezeigt wird, dass man den anderen gerne hat. Dieses Verhalten möchte ich gerne in Deutschland weiter führen, um einfach ein bisschen positiver miteinander umzugehen.


Das waren jetzt einige Aspekte, die für mich "typisch bolivianisch" sind und Bolivien ausmachen. Ich hoffe, ihr konntet dadurch einen kleinen Eindruck bekommen, wie das Leben in Bolivien ist bzw. wie ich das Leben hier wahrgenommen habe. 

Wer mehr Impressionen der bolivianischen Kultur, insbesondere der Kulinarik und der Cholitas, erhalten möchte, dem kann ich die Netflix Serie "Street Food - Lateinamerika" Staffel 1, Folge 6 in La Paz sehr empfehlen.

Mir bleiben jetzt nur noch wenige Tage hier in Bolivien und mir stehen viele Abschiede bevor. Ich werde Bolivien sehr vermissen, freue mich aber auch auf Deutschland. 
Das nächste Mal melde ich mich aus Deutschland und werde noch einen rückblickenden und reflektierenden Blogeintrag zu meinem Freiwilligendienst schreiben. Also bleibt gespannt;)

Ganz liebe Grüße ein letztes Mal aus La Paz
Leona;)